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Das Gehirn im digitalen Zeitalter – Eine Herausforderung für Gesundheit und Bildung

  • ljaencke9
  • 11. Apr.
  • 3 Min. Lesezeit



Die rasante digitale Entwicklung fordert das menschliche Gehirn auf bisher nie dagewesene Weise heraus – insbesondere das von Kindern und Jugendlichen. Moderne Technologien beeinflussen zunehmend unser Denken, Fühlen und Lernen – mit Chancen, aber auch deutlichen Risiken.


Bereits heute verbringen Kinder im Durchschnitt mehr als fünf Stunden täglich mit digitalen Medien, was mit einer intensiven und oft überfordernden Reizflut verbunden ist. Dabei ist das menschliche Gehirn evolutionär nicht auf diese neuartige, digital durchdrungene Welt vorbereitet. Zwar sind Menschen von Natur aus neugierig, bindungsfähig, kooperationsbereit, sicherheitsorientiert und empfänglich für soziale Signale. Doch genau diese grundlegenden Eigenschaften geraten in der digitalen Welt unter Druck.


Ein zentraler Aspekt betrifft den Wandel der Kommunikation. Der Großteil menschlicher Verständigung erfolgt unbewusst und nonverbal über Mimik, Gestik, Stimmlage oder Körpersprache. Digitale Kommunikation hingegen ist häufig textbasiert und entkoppelt von solchen Signalen. Dies kann emotionale Distanz erzeugen, Missverständnisse fördern und soziale Kompetenzen beeinträchtigen, besonders bei Heranwachsenden, deren soziale Hirnstrukturen noch in der Entwicklung sind.


Ein weiteres zentrales Thema ist das sogenannte Multitasking. Digitale Geräte verführen dazu, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun – etwa beim Lernen, Musik zu hören, Nachrichten zu lesen oder Videos zu schauen. Zahlreiche Studien belegen jedoch, dass Multitasking die Konzentration stört, die Fehlerquote erhöht und Denkprozesse verlangsamt. Das menschliche Gehirn ist nicht dafür geschaffen, mehrere anspruchsvolle Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen – besonders nicht in der sensiblen Entwicklungsphase des Kindes- und Jugendalters.


Besonders empfindlich auf digitale Überreizung reagiert das Stirnhirn. Dieser Bereich ist zuständig für Aufmerksamkeit, Planung, Emotionskontrolle, Impulshemmung, Sprachverarbeitung und Selbstdisziplin. Das Stirnhirn entwickelt sich erst im jungen Erwachsenenalter vollständig – Kinder und Jugendliche sind also besonders anfällig für Ablenkung, impulsives Verhalten und Überstimulation.


Zudem zeigen entwicklungspsychologische und neurobiologische Untersuchungen, dass das Gehirn in der Pubertät besonders sensibel auf Reize reagiert. Das Bedürfnis nach Belohnung, Neuem und intensiver Stimulation ist hoch, während die Impulskontrolle noch nicht ausgereift ist. Eine übermäßige Nutzung digitaler Medien kann dabei zu einer Fehlregulation des Dopaminsystems führen. Mögliche Folgen sind Unruhe, Reizbarkeit, Stimmungsinstabilität, verminderte Konzentration, Abhängigkeitstendenzen und eine beeinträchtigte Entwicklung der sogenannten exekutiven Funktionen wie Selbststeuerung, Planung und Handlungsorganisation.


Ferner verändern digitale Mediennutzung und permanente Verfügbarkeit von Informationen auch die Art, wie wir lernen und erinnern. Aufmerksamkeit, Konzentration und emotionale Beteiligung sind Schlüsselfaktoren erfolgreichen Lernens. Wissen wird nicht einfach gespeichert – es wird durch Wiederholung, Verknüpfung und Anwendung im Gehirn vernetzt. Die Qualität des Gedächtnisses hängt dabei auch davon ab, wie stark ein Sachverhalt emotional oder kontextuell eingebettet ist. Das bedeutet: Reines Konsumieren – etwa durch Scrollen und Swipen – bleibt häufig oberflächlich und erzeugt wenig nachhaltiges Lernen.


Trotz der Risiken bietet die digitale Welt auch viele Chancen. Neue Medien ermöglichen einen schnellen Zugang zu Informationen, individualisierte Lernwege, kreative Ausdrucksmöglichkeiten und kooperative Arbeitsformen. Gerade im Bildungsbereich entstehen neue Möglichkeiten der Interaktion, des Feedbacks und der selbstgesteuerten Wissensaneignung. Diese Potenziale können aber nur dann sinnvoll ausgeschöpft werden, wenn sie alters- und entwicklungsgerecht eingesetzt werden – und wenn zugleich grundlegende neuropsychologische Prinzipien des Lernens berücksichtigt bleiben.


Das Gehirn des Menschen hat sich über Jahrtausende hinweg kaum verändert – unsere Umwelt jedoch dramatisch. Diese Diskrepanz erzeugt eine wachsende Spannung zwischen Reizangebot und Verarbeitungsfähigkeit. Was heute fehlt, ist nicht der Zugang zu Informationen, sondern die Fähigkeit zur Konzentration, zur Reflexion und zur gezielten Auswahl. Selbstdisziplin, Pausen, Aufgabenfokussierung und soziale Resonanz sind keine überholten Konzepte – sie sind im digitalen Zeitalter wichtiger denn je.


Eine sinnvolle Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart besteht darin, das Bewährte mit dem Neuen zu verbinden. Das bedeutet nicht, Technik abzulehnen, sondern sie bewusst, reflektiert und dosiert einzusetzen. Lernen bleibt – auch in der digitalen Welt – ein analoger Prozess im Kopf. Aufmerksamkeit, Motivation, soziale Zugehörigkeit und Sinn sind dabei zentrale Voraussetzungen.


Letztlich geht es darum, jungen Menschen Räume zu eröffnen, in denen sie sich entwickeln können – in ihrem Tempo, mit ihren Fragen, ihren sozialen Beziehungen. Die digitale Welt darf dabei eine Bereicherung sein – aber sie darf nicht zum alleinigen Taktgeber ihrer geistigen Entwicklung werden.


(1) Dieser Text fasst meine Vortragsreihe zum Thema „Digitale Medien und deren Einfluss auf das Gehirn des Menschen“ zusammen, die ich mittlerweile auf vielen Veranstaltungen in verschiedenen Versionen gehalten habe. Wesentliche Teile davon finden sich auch in meinem Buch: Jäncke, L. (2021). Von der Steinzeit ins Internet: Der analoge Mensch in der digitalen Welt. Hogrefe AG. Eine Fortsetzung wird Ende des Jahres 2025 erscheinen.

 
 
 

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