Oder wie man die Aufmerksamkeit der Mitreisenden auf sich zieht!
Die digitale Technik ermöglicht uns, an jedem Ort und zu jeder Zeit mit anderen Menschen zu kommunizieren. Die Coronazeit hat diese Möglichkeiten zu Notwendigkeiten werden lassen. Viele haben sich so daran gewöhnt, dass diese Form der Kommunikation stabil in das Verhaltensrepertoire des Gehirns eingebrannt wurde. Selbst in öffentlichen Räumen wird wild darauf loskommuniziert, ohne Rücksicht auf Mithörer. Ohne Scham werden persönliche Dramen und Sorgen mit imaginären Personen ausgetauscht, rechtliche Probleme diskutiert, geschäftliche Fragen erörtert oder das profane Abendessen diskutiert.
Im Prinzip ist ja nichts daran auszusetzen, aber die Häufigkeit, Lautstärke, Aufdringlichkeit und Schamlosigkeit erklimmt gelegentlich erstaunliche Höhen. Die Coronazeit bescherte uns zudem Zoom, Teams, Google Meet oder ähnliche multimediale Möglichkeiten, mit anderen Menschen über den Computer zu sprechen. Man schaut auf wackelnde Köpfe, die grotesk vom restlichen Körper abgeschnitten sind. Eine interessante Folge der digitalen Meetings ist, dass viele digitale Gesprächspartner Kopfhörer tragen, wie Teletubbies aussehen und dann noch lauter und unbeeindruckter drauflosplappern. Kopfhörer sind sicherlich nützlich, um die Gesprächsteilnehmer auf der anderen Seite des Computers besser zu verstehen. Aber man hört die reale Welt um sich herum nicht mehr, oder zumindest nicht mehr so gut. Das beeinflusst dann auch unsere Stimmlage und die Lautstärke, mit der wir sprechen. Je stärker wir unsere Ohren von dem Schall der Umwelt abschirmen, desto lauter sprechen wir. Das ist der sogenannte Lombard-Effekt, ein Reflex, der die Stimme lauter werden lässt, wenn wir uns und die Umwelt nicht mehr so gut hören.
Wenn der Lombard-Effekt im Zug zuschlägt, dann sprechen die Zoom- oder Teams-User reflexartig unnatürlich laut. Gelegentlich hat man den Eindruck, dass sie in die Mikrofone brüllen. Das ist dann irgendwie merkwürdig, denn sie haben trotzdem das Gefühl, sie befänden sich in einem privaten Zwiegespräch ohne fremde Zuhörer. Der Kopfhörer vermittelt dem Sprecher ein trügerisches Gefühl der Abgeschiedenheit und Intimität, die grotesk mit der Öffentlichkeit eines Großraumabteils im Zug kontrastiert. Nur, man befindet sich nicht in der Abgeschiedenheit eines Chefbüros oder einer Schallisolationskammer. Man befindet sich im Zugabteil auf dem Präsentierteller der Öffentlichkeit. Dort hören alle mit, denn die Mithörer können sich diesen Konversationen nicht entziehen.
Besonders aufdringlich sind abrupt einsetzende Klingeltöne von Mobiltelefonen. Diese Klingeltöne sind dazu erfunden worden, um die Aufmerksamkeit des Nachrichtenempfängers auf sich zu ziehen. Das Unangenehme ist allerdings, dass nicht nur der gewünschte Adressat aktiviert wird, sondern auch alle anderen, die im Abteil sitzen. Am Schlimmsten ist es, wenn Klingeltöne verwendet werden, die man auf seinem Mobiltelefon selbst verwendet. Auch aussergewöhnliche Klingeltöne rauben unsere Aufmerksamkeit. Unerwartete und deshalb interessante Reize kann man nicht einfach ausweichen. Sie werden von dem Magneten der Aufmerksamkeit und Orientierungsreaktion unausweichlich angezogen. Man kann ihnen, auch wenn man will, nicht entrinnen. Diese akustischen Reizströme sind umso interessanter und aufdringlicher, je ruhiger und akustisch gleichförmiger die Umgebung ist.
Erreichen uns in solchen Situationen unerwartete akustische Reize, werden Orientierungsreaktionen ausgelöst. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Reizquelle, um zu überprüfen, ob die Reize für uns eine Bedeutung haben. Der Blutdruck nimmt kurzfristig ab, die Herzfrequenz senkt sich, die Hirngefässe erweitern sich und die Durchblutung der Hirnarterien steigt. Das Gehirn wechselt auch in einen anderen Aktivitätsrhythmus mit charakteristisch oszillierenden Hirnwellen. Hirngebiete sind aktiv, die mit der Verarbeitung externer Reize beauftragt sind. Diese physiologischen und neurophysiologischen Reaktionen haben ein Ziel: Die Umwelt nach interessanten Reizen zu scannen und zu überprüfen, ob sie für uns relevant oder gar bedrohlich sind.
Eine unangenehme Nebenerscheinung ist, dass wir dann auch von den Tätigkeiten abgelenkt werden, denen wir gerade unsere Aufmerksamkeit widmen. Unser Aufmerksamkeitsfokus wird von der Aufgabe losgerissen und auf die neue Aufgabe gelenkt. Will man sich wieder auf die ursprüngliche Aufgabe konzentrieren, muss die Aufmerksamkeit von dem unerwünschten Fokus quasi losgerissen, dann auf die alte Aufgabe gelenkt und an der alten (aber gewünschten Aufgabe) wieder angedockt werden. Diese drei Mechanismen kosten kognitive Ressourcen, was nicht anderes als Energie ist. Das bedeutet, durch solche unerwünschten und unerwarteten äusseren Reize wird unser Gehirn zu zusätzlichem Aufwand veranlasst, der Mühe und Energie kostet.
Ein bisschen anders verhält es sich, wenn man gelangweilt im Abteil sitzt und nicht weiss, wie man seine Zeit rumkriegen möchte. Dann erweisen solche Ablenkreize uns einen guten Dienst. Unser Gehirn hasst „wie der Teufel das Weihwasser“ Langeweile. Solche Distraktoren sind dann willkommene Möglichkeiten, irgendetwas wahrzunehmen und sich in die anregenden Geschichten und Probleme anderer Menschen hineinzuversetzen.
Diese Reize zu ignorieren geht zwar, ist aber nicht trivial. Es erfordert geistige Kraft, denn man muss die lästigen Reize unterdrücken, um sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Also am besten wäre es, wenn die übermässige Kommunikation in Zugabteilen stärker eingeschränkt würde. Man sollte sich bewusst werden, dass man andere stört und unnötig belastet. Man kann sich allerdings auch vor den störenden Gesprächen schützen, indem man im Zug grundsätzlich einen geräuschunterdrückenden Kopfhörer trägt. Diese Geräte sind sehr nützlich, um sich vor den unerwünschten Geräuschen zu schützen. Der Nachteil ist allerdings, dass man wie ein Teletubby aussieht. Aber das ist dann noch das kleinere Übel.
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