Gesundheit durch Vernunft? Warum unser Gehirn uns dabei manchmal im Weg steht
- ljaencke9
- 11. Apr.
- 3 Min. Lesezeit

Die Fakten sind eindeutig – und alarmierend: Über 50 % der Erwachsenen in Europa sind übergewichtig, in den USA sind es sogar 68 %. Ein erheblicher Teil dieser Menschen leidet an Adipositas. Hinzu kommen Bewegungsmangel, Rauchen und andere ungesunde Verhaltensweisen – obwohl wir doch alle wissen, was gesund wäre. Warum also tun wir so oft das Gegenteil von dem, was wir für richtig halten?
Der Gedanke, man könne durch rationale Entscheidungen gesund leben, klingt zunächst überzeugend. Wir sind schließlich vernunftbegabte Wesen, oder nicht? Doch die Realität ist deutlich komplexer – zumindest aus Sicht der Neuropsychologie.
Vernunft ist kein Selbstläufer
Die Vorstellung, wir könnten allein mit Logik und Willenskraft unsere Gesundheit steuern, basiert auf einem westlich geprägten Menschenbild:
„Ich bin vernünftig, also handle ich vernünftig.“
Doch unser Gehirn ist kein reines Logikzentrum. Es ist ein hochkomplexes, interpretierendes System – geprägt von Emotionen, Gewohnheiten, evolutionären Bedürfnissen und sozialen Einflüssen.
Das Gehirn: ein energiesparendes Interpretationsorgan
Schon im Ruhezustand verbraucht unser Gehirn rund 20 % der Körperenergie. Um effizient zu arbeiten, ist es auf Routinen angewiesen. Es interpretiert ständig die Welt, trifft Annahmen, gleicht neue Informationen mit alten Erfahrungen ab – und greift dabei häufig auf schnelle, unbewusste Heuristiken zurück. Diese Prozesse laufen unterhalb unserer bewussten Aufmerksamkeit und bestimmen trotzdem unser Verhalten.
Gewohnheiten schlagen Einsicht
Ein zentrales Hindernis auf dem Weg zu einem gesunden Lebensstil sind unsere Gewohnheiten. Sie sind tief im Gehirn verankert – insbesondere in Arealen wie der Amygdala und dem Striatum. Schon nach wenigen Wiederholungen bildet sich eine stabile Verhaltensspur: Was einmal als sinnvoll erlebt wurde, wird zur automatisierten Reaktion. Der Griff zur Zigarette, das Stück Kuchen zum Kaffee, die Couch statt der Laufschuhe – das alles folgt oft gelernten Mustern, nicht bewussten Entscheidungen.
Die Macht des Dopamins
Dopamin spielt eine zentrale Rolle in der Belohnungsverarbeitung. Es wird freigesetzt, wenn wir etwas Angenehmes erleben – oder antizipieren. Viele ungesunde Verhaltensweisen (Zucker, Fett, Nikotin) triggern dieses System besonders zuverlässig. Kein Wunder also, dass unser Gehirn sie „belohnt“ und wiederholen will. Und obwohl wir wissen, dass diese Belohnungen kurzfristig sind und langfristig schaden – der Wunsch nach dem Kick überwiegt häufig.
Logik trifft auf Lust
Das erklärt, warum so viele Menschen an der berühmten „Knowing–Doing–Lücke“ scheitern: Sie wissen, was gesund wäre – aber sie tun es nicht. Die kognitive Dissonanz – also das unangenehme Gefühl, wenn Handeln und Wissen nicht zusammenpassen – wird oft unbewusst gelöst, indem wir unser Verhalten rechtfertigen oder unser Wissen abwerten: „So schlimm ist das nicht“, „Man lebt ja nur einmal“, „Ich fange nächste Woche an“.
Entscheidungen: zwischen Kalkül und Intuition
Wenn alle Informationen vorliegen, können wir rationale Entscheidungen treffen – mit Logik, Statistik, Wahrscheinlichkeiten. Doch das ist selten der Fall. In der Realität treffen wir Entscheidungen oft unter Unsicherheit. Dann kommen Intuition, emotionale Erfahrungswerte und Heuristiken ins Spiel – und diese sind nicht immer gesundheitsförderlich.
Warum Vernunft Anstrengung kostet
Gesundes Verhalten erfordert bewusste Kontrolle – und damit Aktivität im präfrontalen Cortex, dem Sitz von Selbstdisziplin, Planung und Impulskontrolle. Doch diese Fähigkeiten brauchen Energie, Übung und Motivation. Vor allem in stressigen Phasen oder bei Erschöpfung greift das Gehirn lieber auf automatische, energieeffiziente Muster zurück – also auf genau jene Gewohnheiten, die wir eigentlich verändern wollten.
Und was jetzt?
Was also tun? Die neuropsychologische Antwort lautet: Veränderung braucht Einsicht, aber auch Struktur, Wiederholung und Geduld. Wer sich neue Gewohnheiten aneignen will, muss nicht nur wissen, warum etwas wichtig ist, sondern vor allem lernen, wie man das Gehirn „umprogrammiert“. Kleine, erreichbare Ziele, positive Belohnungssysteme, soziale Unterstützung und das Bewusstsein für Rückfälle sind entscheidend.
Fazit: Vernunft ist möglich – aber nicht selbstverständlich
Gesund zu leben, ist keine rein rationale Entscheidung. Es ist eine Herausforderung für unser Gehirn – und damit eine Trainingsaufgabe für jeden Einzelnen. Wer versteht, wie das Gehirn funktioniert, kann gezielt an den richtigen Stellen ansetzen: an den Gewohnheiten, an der Belohnungsstruktur, an der inneren Haltung.
Denn eines ist sicher: Die Fähigkeit zur Veränderung ist uns gegeben. Unser Gehirn ist plastisch. Es passt sich an. Und es kann lernen – ein Leben lang. Aber eben nicht automatisch. Vernunft braucht Übung.
(1) Dieser Text fasst meine Vortragsreihe zum Thema „Vernunft und Gesundheit“ zusammen, die ich mittlerweile auf vielen Veranstaltungen in verschiedenen Versionen gehalten habe. Teile davon finden sich auch in meinem Buch: Jäncke L. Ist das Hirn vernünftig?: Erkenntnisse eines Neuropsychologen. Hogrefe AG; 2016. oder in dem Übersichtsartikel: Jäncke L. Human intelligence: is the human brain reasonable? Dtsch Med Wochenschr. 2024;149:1393–400.
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